Dienstag, 18. April 2017

Zu den Siegesfeiern der Erdogan-Anhänger

Bei vielen Facebook-Kollegen kursieren Medienberichte über Siegesfeiern von Erdogan-Anhängern in Deutschland und sorgen für Empörung bis hin zu Sprüchen wie "Geht doch in Eurer Autokratieparadies!"

Inhaltlich ist solche Aufforderung zwar nicht komplett falsch, aber politisch restlos daneben, denn gänzlich auf Linie derer, die im Nationalismus Glück ersehnen und Horden gegen Horden aufstacheln. Jedem Besäufnis folgt der Kater. - So geschehen nach jeder Revolution, nach jeder mir erinnerlichen Präsidentschaftswahl in Frankreich, USA usw.
Drum lasst sie feiern. Und den Sieg genießen. Denn weil es nicht ihr Sieg war, Dank Erdogan nun mit so vieler Welt und innenpolitisch verquer zu sein, wird noch reichlich Gelegenheit zum Bedauern bieten.

Nora meint: "Interessanter wäre es doch, einmal die Frage zu stellen, warum die meisten Türken den Lockruf des Westens nicht mehr folgen wollen."

@Nora, ich war zwar schon lange nicht mehr in der eigentlich sehr gastfreundlichen Türkei, weil in Pankow nahezu eingesperrt, aber damals schwärmten viele Türken für Deutschland, waren stolz auf Familienmitglieder, die es in Deutschland schafften.

Ich vermute,
- es wird unterschätzt, wie schlimm die NSU-Morde und auch der Prozess auf die türkische Community wirken,
- es wird unterschätzt, wie sehr deutscher Rechtspopulismus und türkischer Nationalismus einander befeuern,
- es wird unterschätzt, wie wichtig es wäre, Menschen jeglicher Herkunft im Rahmen der Möglichkeiten (zumindest in Großstädten) in ihren Muttersprachen wenigstens als Zweitsprache schulisch zu unterrichten,
- es wird unterschätzt, wie auf die Menschen in der Türkei wirkt, dass kaum ein Land der EU die Türkei in der EU sehen will,
- es wird unterschätzt, wie schwer sich auch bemühteste Kinder "mit Migrationshintergrund" in unserem Land schwer tun, gleichberechtigt ins Berufsleben oder an Wohnungen zu kommen, weil eben "Migrationshintergrund" - und keine Vokabel vermag Realität zu verändern, wenn es die Mehrheitsgesellschaft nicht will und zugleich kritisiert als "Deutschland schafft sich ab" usw.,
- es wird unterschätzt, wie sehr Muslime darunter leiden, wegen des islamistischen Terrors in Verdacht zu geraten, auch wenn Sonntagsreden anderes beschwören,
- es wird so viel mehr unterschätzt, was den Eindruck bewirkt, "Mensch 2. Klasse" zu sein, zumal der Eindruck nicht täuscht, sondern Konsequenzen anmahnt.

In fast allen, auch in mir steckt eine Menge Hordismus, so sehr ich theoretisch total auf anderem Dampfer bin, aber man kann sich üben, dass wenn es aufkocht, sofort Ruf zur Besonnenheit kommt, denn wir alle sind Menschen - mit gleichem Recht auf Freude und auch auf Anerkennung.

Etwaige "Selbstverdächtigungs-Litanei" ?
Einerseits hat die Sebstverdächtigung im Vergleich zur Fremdschuldbehauptung den erheblichen Vorteil, sich der eigenen Handlungsspielräume zu vergewissern, sofern sich der Verdacht bestätigen lässt, es also auf die andere Seite insoweit weniger ankommt.
Andererseits dürfte solche Herangehensweise an Probleme, falls überhaupt zutreffend und von Relevanz, regelmäßig bloß Einsicht ohne Praxis sein,
denn in der Praxis habe ich an so gut wie nüscht schuld :-)

Einsichten und Umsetzung klaffen bei vielen eben nicht nur beim Rauchen auseinander, sondern auch im Umgang miteinander.
Solches einzusehen = "Realismus".

Darum sage ich Frauen und Minderheiten oft, dass trotz aller Gleichberechtigung die Realität noch ein Weilchen brauchen wird, so dass es sich für Frauen und Minderheiten empfiehlt, BESSER als die Mehrheit zu sein. - Das erntet mitunter den berechtigsten Widerspruch, aber kann an Realität nicht vorbei, dass sich oft erst im BESSER-SEIN die Gleichberechtigung herstellt.

Dienstag, 4. März 2008

Assimilation und Integration

F. schrieb: "denn nach meinem Verständnis (und nicht nur meinem, denn da liege ich ausnahmsweise doch mit so manchem "Deutschtümler" auf einer Linie..) ist es gegen die "Natur des Menschen" seine Wurzeln zugunsten anderer aufzugeben."

Was ist die "Natur des Menschen"? Haben Wurzeln oder Beine? Sind wir Bäume oder Menschen?
Darum widerspreche ich schönen Sprüchen eines Nazim Hikmet an deren Sinngrenzen >> www.inidia.de/nazim_hikmet.htm

"Einen alten Baum verpflanzt man nicht. ..." - was oft stimmt, stimmt oft auch nicht.

Jemand kann "stark wie eine Eiche" sein, aber Eichen können der Axt nicht weichen, während ein Schlag genügt, um einen Schädel zu spalten. - Die Sinngrenzen von Liedern, Vergleichen erfassen, macht Sinn.

Zwangsumsiedelungen, Zwangsassimilierung können Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein, aber auch sie sind es nicht immer, sondern oft genug in der Geschichte unvermeidbare Folge von Kriegen und anderen Katastrophen, derer man sich erinnern soll, damit sich Ursachen vermeiden lassen, aber mit denen es sich ebenfalls oft abzufinden gilt.

"Natürlich" könnte ich in der Bretagne, in Sibirien, auf Haiti leben, wenn ich mich anpassen kann und man mich anpassen lässt. Denn so ist der Mensch, während es beim Baum nur der Samen probieren kann.

F. schrieb: "DESHALB ist Assimilation für mich ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", auch wenn ich diese Betitelung sehr hochtrabend finde."

Das ist falsch, weil Anpassung eine Grundvoraussetzung allen Lebens und des Friedens ist.

Das Missverständnis beruht auf Ängsten, ob Anpassung zu Identitätsverlusten führt oder sich willentlich ändert oder sollentlich notwendigen Kompromissen dient.